Jörg Vollmer, Generalleutnant, InspH

15. Januar 2016


Rede

Inspekteur des Heeres

anlässlich

der Feierstunde am Ehrenmal des Heeres

in Koblenz

am 19. November 2015



Sehr geehrter Oberbürgermeister Hoffmann Göttig,
Sehr verehrte Repräsentanten aus Politik, Kirche, Bundeswehr und Gesellschaft, verehrte Gäste alliierter und befreundeter Streitkräfte,
Meine sehr verehrten Damen und Herren-

Erlauben Sie mir, dass ich zunächst seiner Exzellenz, Herrn Militärbischof Dr. Rink, danke, dass er heute zu uns gesprochen hat.
Ich freue mich ausdrücklich, dass Sie als erster hauptamtlicher Militärbischof der evangelischen Kirche für die Bundeswehr die Gelegenheit ergriffen haben, am Ehrenmal des Heeres gemeinsam mit uns den in Krieg und Einsatz gefallenen Soldaten des Deutschen Heeres zu gedenken.
Dieses Gedenken bildet die Brücke zu den Lebenden, den Soldatinnen und Soldaten des Heeres, die aktuell in den Einsatzgebieten der Bundeswehr weltweit, aber auch bei der schwierigen Aufgabe der Flüchtlingshilfe hier in Deutschland, Orientierung und Halt bei den Seelsorgern beider Konfessionen finden.
Hierfür, sehr geehrter Herr Militärbischof, aber auch dem Vertreter der katholischen Kirche, giltmein ganz persönlichen Dank!

Ihnen, Herr General Glatz, danke ich stellvertretend dem Kuratorium des Ehrenmals des Deutschen Heeres, welches in bewährter Weise seine Kraft der Bewahrung dieses würdigen Ortes der Erinnerung und der Ehrung widmet. Wir wissen dessen Zukunft weiterhin in guten Händen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Und wer hätte vor 20 Jahren gedacht – als wir im zerfallenden Jugoslawien in Bosnien Herzegowina mit IFOR und SFOR eingeschritten sind – das Offiziere aus Bosnien und Herzegowina, aus Serbien und aus Mazedonien gemeinsam in AfghanistanDienst leisten würden.
Sich diese positiven Entwicklungen immer wieder vor Augen zu führen, auch durch das jährliche Gedenken hier am Ehrenmal des Heeres, hilft, um Gräben zu überwinden und gemeinsam wieder nach vorne schauen zu können. Die europäische Geschichte – insbesondere die unsere – ist diesbezüglich sehr reichhaltig.
Hätte ich an gleicher Stelle vor 1 ½ Jahren gesprochen, wäre vieles von dem was ich sage noch geprägt gewesen durch Afghanistan. Gleichzeitig aber kam es zur brutalen Niederschlagung der Proteste auf dem Maijdan in Kiew. Und seitdem hat sich die Weltlage dramatisch verändert, und ich möchte Ihnen aus meiner Perspektive zu möglichen Konsequenzen vortragen.
Denn heute wissen wir: die Grundlagen der europäischen Sicherheitsordnung sind erschüttert worden.
Hierfür verantwortlich sind zwei Entwicklungen, die nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können: das Erstarken islamistischer Extremisten an der unmittelbaren Peripherie Europas sowie das Verhalten Russlands.
Das Wirken islamistisch geprägter Extremisten, von der Levante bis nach Afrika, bedroht Europa und die gesamte westliche Welt sehr viel stärker, als dies bisher der Fall war. Nicht zuletzt die tödlichen Anschläge von Paris belegen in erschreckender Weise, wie nachhaltig die gesamte westliche Welt unmittelbar betroffen ist.
Ausgangspunkt heimtückischer Angriffe ist spätestens seit 2014 die Terrororganisation „Islamischer Staat“, der es gelungen ist, sich in der Levante und weiter östlich davon eine stabile regionale Basis auf Kosten der dort existierenden, gescheiterten Staaten (IRAK und SYRIEN) zu schaffen.
Eine vollständige Analyse der komplexen Zusammenhänge kann und soll hier nicht vollzogen werden. Aber: niemand wird bestreiten, dass an der Süd-Ostgrenze Europas ein Gegner mit militärischen Fähigkeiten entstanden ist, der unter Rückgriff auf Mittel asymmetrischer Kriegführung (Geiselnahme, Terror, Schwarzhandel, Menschenhandel u.a.) versucht, einen totalitären Gottesstaat zu schaffen, der sich bereits jetzt mit tödlicher Gewalt gegen uns wendet.
Aber nicht nur das: Millionen von Menschen, von Afghanistan, Irak, Syrien, dem Libanon bis nach Afrika befinden sich derzeit auf der Flucht vor durch islamistischen Terror und Staatszerfall ausgelöster Furcht vor Tod und Gewaltherrschaft und stellen Europa vor einzigartige Herausforderungen.
Parallel dazu erhebt Russland den Anspruch, mehr Einfluss in seiner unmittelbaren Nachbarschaft auszuüben.
Für Präsident Putin kommt es darauf an, nach der 2008 (Georgien-Konflikt) eingeleiteten Streitkräftereform die Handlungsfähigkeit Russlands zur Durchsetzung seiner Interessen unter Einbeziehung moderner Streitkräfte erneut unter Beweis zu stellen. Und das unterm dem Schutz eines ernstzunehmenden Nuklearwaffenpotenzials.
Die asymmetrische Kriegführung unter Missachtung der mit der Charta von Paris etablierten europäischen Friedensordnung führte in der Folge zur Annektierung der Krim sowie zur Spaltung der Ukraine, gefolgt vom Syrien Einsatz russischer Streitkräfte an der Seite des Assad-Regimes.
Russland ist somit erneut ein wichtiger machtpolitischer Faktor, der über ein ernstzunehmendes militärisches Potenzial verfügt und bereit ist, dieses zur Durchsetzung eigener Interessen einzusetzen.

Die damit verbundenen Herausforderungen wirken sich unmittelbar auch auf das Deutsche Heer aus.
Dies sind zunächst einmal die Auslandseinsätze der Bundeswehr, von Afghanistan, dem Irak, im Kosovo bis nach Mali, bei denen das Deutsche Heer auch 2016 einen entscheidenden Beitrag zum Kampf gegen den islamistisch motivierten Extremismus und seine Ursachen leistet – durch Ausbildung, Stabilisierung und – wenn nötig – auch durch Kampf.
Darüber hinaus erfordern die durch das russische Verhalten ausgelösten Beschlüssen des NATO Gipfeltreffens von WALES vom September 2014 deren Umsetzung durch das Deutsche Heer.
Alleine 2015 waren daher ca. 4.700 Soldaten in Polen und den baltischen Staaten zur Umsetzung des sogenannten Readiness Action Plan und der Persistence Presence eingesetzt, u.a. im Rahmen von gemeinsamer Ausbildung und Übungen, teilweise über mehrere Monate hinweg. Ein Engagement, welches wir auch 2016 in vergleichbarem Umfang fortsetzen werden.
Parallel dazu unterstützt das Deutsche Heer tagtäglich bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, sei es unter anderem durch Personalabstellungen an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, den Betrieb von Erstaufnahmeeinrichtungen (Erding, Feldkirchen, Fallingbostel), der Unterstützung beim Betrieb von zivilen Flüchtlingslagern oder der Bereitstellung von „helfenden Händen“, dort wo ehrenamtliche Helfer knapp werden.

Die Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Aufträge sind nicht immer optimal. Denn neben jener sicherheitspolitischen Unordnung, die eine exakte Vorhersage zukünftiger Ereignisse mit Auswirkungen auf unsere Sicherheitslage unmöglich machen, hat es insbesondere 2015 eine intensive Diskussion zu erodierten Fähigkeiten deutscher Landstreitkräfte gegeben, die erkennen lässt, welche Folgen die jahrzehntelange Unterfinanzierung des Heeres haben.
Ich stelle hierzu fest: das Heer erfüllt seine Aufträge auf Grundlage einer robusten Struktur, mit hoch professionellen, gut ausgebildetem und im Kampf bzw. im Einsatz erfahreneren Soldatinnen und Soldaten und unter Rückgriff auf modernste Ausrüstung, dort wo sie vorhanden ist. Wir tun dies streitkräftegemeinsam und im engen Zusammenwirken mit unseren internationalen Partnern.
Dabei hat sich die unter gänzlich anderen Vorzeichen entwickelte Struktur HEER2011 als Glücksgriff erwiesen. Die daraus zu stellenden robusten Kampftruppenverbände – ursprünglichgedacht für den Einsatzbei ISAF oder vergleichbaren Operationen – ermöglichten uns 2014 sehr schnell Kräfte für den Kern der schnellen Eingreiftruppe der NATO zu stellen.
Die Einnahme der neuen Struktur wird daher wie geplant bis Ende 2017 abgeschlossen werden. Erstmals seit der Wiedervereinigung werden wir eine Reform konsequent zu Ende bringen, auch wenn – insbesondere beim Personal – noch immer Überhänge aus vorangegangenen Strukturmaßnahmen abzubauen sind. Dies wird uns noch bis weit in das kommende Jahrzehnt hinein fordern.
Auch die Aussetzung der Wehrpflicht hat sich in diesem Zusammenhang als richtig erwiesen. Befürchtungen hinsichtlich fehlenden Nachwuchses sind das Heer betreffend ebenso unbegründet wie die Isolierung der Streitkräfte in der Gesellschaft.

Allerdings: die seit der Wiedervereinigung fehlende Kontinuität in Bezug auf Strukturen, Ausrüstung und Modernisierung hat gravierende Folgen, die sich nicht von heute auf morgen abstellen lassen.
Das gilt insbesondere für die gegenüber der NATO eingegangenen Verpflichtungen zur Landes- und Bündnisverteidigung.
Das beginnt beim Großgerät, bei dem wir in der Regel nur über 70% dessen verfügen, was ein Verband benötigt, um seiner Struktur entsprechend eingesetzt zu werden. Dies war angesichts der 2011 zu Grunde liegenden Rahmenbedingungen noch vertretbar, ist inzwischen aber obsolet. Auch wenn durch den Wegfall der sogenannten Stückzahlobergrenzen und einige, wichtige Rüstungsentscheidungen – Mehrbeschaffung GTK BOXER und Kampfpanzer Leopard – Schritte in die richtige Richtung unternommen wurden, besteht dringender Handlungsbedarf.
Daher gilt meine Aufmerksamkeit der strukturgerechten und einer an unseren Aufgaben orientierten Ausstattung des Heeres. Diese Aufgabe ist mein ganz persönlicher Schwerpunkt, dem ichvor allem mein Engagement in Berlin widme.

Welche Herausforderungen erwarte ich in Zukunft?

Weder Umfang noch der Charakter zukünftiger Einsätze sind vorhersehbar.Aber es gilt die Weichen zu stellen, um möglichst optimal auf alle Herausforderung für Landstreitkräfte vorbereitet zu sein.
Dies umfasst neben der materiellen Ausstattung – zu der ich ja bereits ausführlich Stellung bezogen habe – unser Selbstverständnis, die Ausbildung und Personalgewinnung, der in Zukunft noch mehr Bedeutung beigemessen wird.
Das Selbstverständnis des Heeres ist dabei das Fundament, aus dem wir Soldaten Kraft und Inspiration schöpfen. Es steht in Teilen im Widerspruch zu Strömungen in der Gesellschaft, die eine weitere Individualisierung erahnen lassen. Dass unser Modell von Gemeinschaft und Teamgeist für junge Menschen attraktiv ist, zeigen die guten Nachwuchszahlen.
Wir müssen allerdings bei der Prägung unserer Soldatinnen und Soldaten verstärkt darauf hinwirken, dass Ungewissheit und eine hohe Reaktionsfähigkeit von Streitkräften untrennbar mit dem Soldatenberuf verknüpft sind.
Das bedeutet: wir werden nicht immer optimal vorbereitet sein und es Bedarf Selbstvertrauen, Einsatzwille, Kreativität und Flexibilität, um dort effektiv zu wirken, wo andere nicht hingehen. Die Bereitschaft hierzu zeichnet uns genauso aus wie der Wille zum Kampf. Dies bedarf unverändert besonderer Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die bereit sind, sich selbstlos in den Dienst der Gesellschaft zu stellen; wenn notwendig, unter Einsatz ihres Lebens.
Und um in genau solch kritischen Situationen zu bestehen, brauchen unsere Soldaten auch eine robuste körperliche Leistungsfähigkeit.
Bei der Ausbildung kommt es mirdarauf an, dass jeder Soldat sein militärisches Handwerkszeug beherrscht. Das klingt zunächst wie eine Selbstverständlichkeit. Aber angesichts der Vielfalt möglicher Einsätze gilt es bewusst auszuwählen, was vorrangig auszubilden ist. Es gilt, erneut gemäß den Vorschriften richtig auszubilden und sich darüber hinaus zielgerichtet auf einen unmittelbar bevorstehenden Einsatz auszubilden.
Das heißt allerdings nicht, dass wir bisher nicht gut ausgebildet sind. Bei vielen Ausbildungen und Übungen, als Brigadekommandeur, im Gefechtsübungszentrum, oder als Kommandeur Einsatz konnten ich mich persönlich von der Leistungsfähigkeit unserer Soldatinnen und Soldaten überzeugen. Wir brauchen uns nicht zu verstecken.
Aber die klassischen Gefechtsarten – Angriff, Verteidigung und Verzögerung – müssen erneut in den Mittelpunkt der Ausbildungrücken. Denndie damit verbundenen Fertigkeiten bilden die Grundlage für alle anderen Aufgaben in möglichen Einsätzen. Wer kämpfen kann, kann auch stabilisieren.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
das Heer wir im kommenden Jahr 60 Jahre alt. Meine Botschaft zu diesem Anlass: die Herausforderungen sind weder weniger noch einfacher geworden.
Soll das Heer auch in Zukunft seine Aufträge weltweit erfüllen können, insbesondere im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung, bedarfes weiterer Kraftanstrengungen, die vor allem einer unverändert nicht überall befriedigenden Ausrüstungs- und Materiallage – struktur- und bedarfsgerecht – geschuldet sind.
Dies wurde erkannt und alle verantwortlichen Akteure in den Streitkräften, der Industrie und der Politik arbeiten intensiv daran, die Lage Schritt für Schritt zu verbessern.
Ich blicke positiv in die Zukunft, wir sind auf dem richtigen Weg. Aber wir brauchen einen langen Atem.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.





Erstellt von: akress letzte Änderung: Sonntag, 24. Januar 2016 [11:42:07] von akress

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