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Ev. Militärbischofs Dr. Sigurd Rink

Koblenz, 20.November 2014

Gedenkansprache am Ehrenmal des Deutschen Heeres anlässlich des Volkstrauertages



Es gilt das gesprochene Wort
Wer nur den lieben Gott lässt walten
und hoffet auf ihn allezeit,
den wird er wunderbar erhalten
in aller Not und Traurigkeit.
Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut,
der hat auf keinen Sand gebaut.

Es ist ein auf wunderbare Weise tröstendes Lied, das das Heeresmusikkorps Koblenz da eben gespielt hat. Verfasst hat es der Dichter und Komponist Georg Neumark. Für manchen mögen diese Liedzeilen vielleicht fast ein bisschen zu vertrauensvoll, zu zuversichtlich klingen für eine Gedenkfeier am Ehrenmal des Deutschen Heeres aus Anlass des Volkstrauertages.
Wir gedenken heute der Toten, der Gefallenen, der Opfer von Kriegen und Gewalt. Alleine in den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts sind unvorstellbar viele Menschen umgekommen. Im ersten Weltkrieg 17 Millionen. Im zweiten Weltkrieg verloren in jeder einzelnen Stunde über 1.000 Menschen ihr Leben, sechs lange Jahre lang. Als Soldaten, als Opfer des Luftkrieges, als Flüchtlinge und Vertriebene, als Opfer der Gewaltherrschaft. Insgesamt 65 Millionen.
Die Welt war erschüttert nach diesen Kriegen. Viele derjenigen, die überlebt hatten, hatten selbst dem Tod ins Auge geblickt. Kaum jemand, der keinen Angehörigen verloren hatte. Es ist für uns heute kaum vorstellbar, wie betroffen, wie verletzt die Menschen damals waren. Können wir der Toten gedenken, ohne uns über diejenigen Gedanken zu machen, die dies überlebt haben?
Schon der gewaltsame Tod einzelner Menschen kann tief erschüttern. Auch viele von Ihnen werden hier und heute konkrete Namen und Gesichter vor Augen haben von Soldatinnen und Soldaten, die im Dienst der Bundeswehr ums Leben gekommen sind. „Den Heeressoldaten der Bundeswehr, die für Frieden, Recht und Freiheit ihr Leben ließen“ lautet eine Inschrift, die dem Ehrenmal 2006 hinzugefügt wurde. Für diejenigen, die einen oder eine von ihnen kannten, ist der heutige Tag mehr als ein Gedenktag – es ist ein Tag der Trauer.
Wer trauert, hat etwas verloren. Es ist ein tiefer Schmerz angesichts des Verlusts von etwas, das einem am Herzen lag. Trauer wächst nicht proportional zur Zahl der Toten. Es geht ihr nicht um die Menge, sondern um den einzelnen verstorbenen Menschen in seiner Einzigartigkeit. Trauer setzt voraus, dass wir persönliche Bindung eingehen.
Wenn in diesem Jahr – 70 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs – über Erinnerungskultur gesprochen wird, dann hat das viel mit der Frage zu tun, wer in Zukunft um die Toten der Weltkriege trauern wird. Denn die Zahl derer, die diese Urkatastrophen des 20. Jahrhunderts selbst erlebt haben, nimmt immer weiter ab. Wie halten wir das Gedenken aufrecht? Diese Frage beschäftigt daher viele. Und doch trifft sie meines Erachtens nicht ganz den Kern.
Erinnerungskultur ist kein Selbstzweck. Erinnerungskultur muss dem Frieden dienen. Wir dürfen die so leidvoll errungene Erkenntnis von der überragenden Bedeutung des Friedens nicht leichtsinnig wieder aufs Spiel setzen. Schmerz, tiefe Betroffenheit und Trauer von Millionen von Menschen haben nach den Weltkriegen ein enormes Friedenspotential entfaltet. 1945 formulierten die Verfasser der Präambel der Vereinten Nationen: Wir sind „fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“. Diese gemeinsam geteilten Erfahrungen scheinen inzwischen zu verblassen. Viele Zeithistoriker und Journalisten beschreiben ein erneutes Auseinanderdriften der Narrative, unter anderem zwischen Russland und den Ländern der Europäischen Union.
Gedenken alleine reicht da nicht aus. Denken, Nach-Denken bearbeitet nur eine, die intellektuelle Ebene. Auch bringt es wenig, den Blick in erster Linie in die Vergangenheit zu richten. Wir brauchen eine neue Kultur der Trauer – und des Mitgefühls. Grund zur Trauer gibt es auch heute noch genug. Die Nachrichten von Kriegen und Bürgerkriegen, von Unterdrückung und Verfolgung, von Vertreibung und millionenfachem Mord überschlagen sich förmlich. Doch das geballte Unrecht kann hilflos, machtlos machen – ab einem gewissen Punkt auch gefühllos. Gleichgültigkeit ist gefährlich. Was passiert, wenn eine neue Generation heranwächst, die nicht recht weiß, um wen und wie sie trauern soll? Wie kann sie eine Leidenschaft für den Frieden entwickeln?
Gemeinsam die Toten zu betrauern, das war die Grundidee des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, als er 1919 die Einführung eines nationalen Volkstrauertags vorschlug. Mit dem Gedenktag sollte ein sichtbares Zeichen der Solidarität mit den Hinterbliebenen der Gefallenen des ersten Weltkriegs gesetzt werden. Die Geschichte zeigt, wie schwierig sich dies gestaltet. Schon in der Weimarer Republik gelang es nicht, alle Trauernden an diesem einen Tag zusammen zu bringen. Die politisch zutiefst zerklüftete deutsche Gesellschaft fand keinen gemeinsamen Blick auf den ersten Weltkrieg – und daher auch nicht auf ihre Toten. Das verbindende Element der Trauer um die Gefallenen geriet durch die stark umstrittene Deutung des Krieges in den Hintergrund.
Heute ist der Volkstrauertag nicht mehr nur Soldaten, sondern „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ insgesamt gewidmet. Bewusst wurde nach 1945 darauf verzichtet, zivile von militärischen, unschuldige von schuldigen Opfern zu unterschieden. Neben die toten Soldaten traten die Frauen, Kinder und Männer, die in den besetzten Ländern und in Deutschland Opfer von Krieg und Gewalt geworden waren. Auch an die Opfer der Diktatur, an die Menschen, die aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen verfolgt worden waren, soll erinnert werden. Zugleich wuchs das öffentliche Bewusstsein, dass es oft nur ein schmaler Grat ist zwischen Tätern und Opfern der Gewalt.
Dieses Umdenken betraf auch die Rolle der Soldatinnen und Soldaten, denen man – bis heute – mit Skepsis begegnet. Viele von Ihnen wissen dies aus eigener Erfahrung. Militärischen Einsätzen stehen viele Deutsche kritisch gegenüber, Parlamentsarmee hin oder her. Statt Solidarität und Anerkennung spüren Bundeswehrangehörige oft kritische Distanz – im Hinblick auf die Notwendigkeit ihrer Tätigkeit wie auf die Ziele und Erfolge von Auslandseinsätzen. „War es das wert?“, lautet eine häufig gestellte Frage.
Mitgefühl schließt kritische Fragen nicht aus. Aber es würde sie aus einer anderen, zugewandten Perspektive formulieren. Dort, wo Menschen mitfühlen, wächst die Sehnsucht nach einer Welt, in der es sich gemeinsam in Frieden leben lässt – und mit dieser Sehnsucht die Entschlossenheit, dem Unfrieden und der Gewalt nicht das letzte Wort zu überlassen. Mitgefühl ermahnt dazu, auch angesichts gefühlten Handlungsdrucks in erster Linie darauf zu schauen, was jeweils notwendig ist, damit Menschen dauerhaft in Frieden leben können. Die Sehnsucht nach gerechtem Frieden weitet die Perspektive über akute Interventionen hinaus für eine nachhaltige Friedenssicherung. Das setzt voraus, dass nicht länger in starren Kategorien wie militärisch versus zivil gedacht wird. Frieden kann nur mit vereinten Kräften gelingen – überall dort, wo Versöhnung geschieht. Es sind die kleinen Schritte, die auf diesem Weg zählen.
Es ist an der Zeit, dass wir uns den Volkstrauertag gesellschaftlich neu erschließen – als einen Tag nicht nur des historischen Gedenkens, sondern auch der Trauer um und des Mitgefühls mit den Opfern aktueller Konflikte. Dabei müssen insbesondere auch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in den Blick kommen, die im Auftrag des Deutschen Volkes im Einsatz waren, ihr Leben verloren oder an Leib und Seele Schaden genommen haben.
Zugleich gilt es, sich auch der Wunder der Versöhnung des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Wir als Deutsche haben besondere Erfahrungen gemacht: Die friedliche Revolution und der Mauerfall, dessen 25-jähriges Jubiläum wir im vergangenen Jahr gefeiert haben, zählen zu den bahnbrechenden historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Sie haben zuvor Undenkbares zu einer realen Option werden lassen. Wer Versöhnung erfahren oder aber ihr bewusst nachgespürt hat, der entwickelt den notwendigen Mut, allen Herausforderungen und Ungewissheiten zum Trotz nach den Bedingungen eines gerechten Friedens zu fragen und das ihm Mögliche dazu beizutragen.
Frieden, das ist keine weltfremde Vision, sondern die begründete Hoffnung, dass wir als Menschen nicht alleine sind.

Auch Georg Neumarks Welt war erschüttert. Er wurde geboren in der Zeit des 30-jährigen Krieges, ist mit dem Krieg aufgewachsen. Sein Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ hat er mitten in den Wirren dieser Zeit geschrieben. Auch dieser Krieg war ein in seinen Ausmaßen schier unglaublicher Krieg, ein Erlebnis von nicht enden wollendem Krieg, Hunger, Krankheiten und allgemeiner Zerstörung, das vielfältige Spuren hinterlassen hat.
Trotzdem war der Dichter und Komponist voller Zuversicht:

Sing, bet und geh auf Gottes Wegen,
verricht das Deine nur getreu
und trau des Himmels reichem Segen,
so wird er bei dir werden neu;
denn welcher seine Zuversicht
auf Gott setzt, den verlässt er nicht.

Erstellt von: akress letzte Änderung: Sonntag, 24. Januar 2016 [12:26:22] von akress