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Rede Generalleutnant a.D. Rüdiger DrewsPräsident des Kuratoriums Ehrenmal des Deutschen Heeresam 20.11.2008 in KoblenzMeine Damen und Herren!Für das Kuratorium des Ehrenmals des Heeres und für den Inspekteur des Heeres, Herrn Generalleutnant Hans-Otto Budde, begrüße ich Sie zur diesjährigen Gedenkfeier des Deutschen Heeres aus Anlass des Volkstrauertages. Lassen Sie mich Alfred Grosser vorstellen, der heute die Ansprache am Ehrenmal halten wird. Redner sollten eine Autorität für den Anlass haben. Professor Alfed Grosser hat diese. Nach Krieg und zwölf Jahren Nationalsozialismus war er einer der ersten, mutig den Weg in die neue Zukunft mit Rat und Tat zu beschreiten. Er stammt aus Deutschland, aus Frankfurt. „Beide Eltern und die vier Großeltern waren Juden“, so schildert er selbst seine Herkunft, „mein Vater Kinderarzt, Professor an der Universität, Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse wegen Kriegseinsatz von 1914 bis 1918, Freimaurer. Aber Hitler reduzierte seine Identität auf die jüdische Zukunft.“ – Welch eine Formulierung! Geboren 1925, emigrierte er 1933 mit seiner Familie nach Frankreich und wurde 1937 französischer Staatsbürger. Er studierte Politikwissenschaft und Germanistik und wurde 1955 Professor am Institut d'études politiques in Paris, später Studien- und Forschungsdirektor der nationalen Stiftung für Politische Wissenschaften. Wer kennt nicht seine Bücher, von der „Deutschlandbilanz“ 1970 bis hin zu den zahlreichen Abhandlungen über die Deutschen, über die Franzosen, über die Deutschen und Franzosen in den vergangenen vier Jahrzehnten. Seine Vorträge sind legendär, ebenso seine Kolumnen und Fernsehbeiträge. Alle Foren nutzte er, um aus dem moralischen Zusammenbruch zum Aufbruch nach vorn anzutreiben, von Beginn an. „Als ich 1947 als französischer Journalist meine Geburtsstadt besuchte“, erzählte er, „da interviewte ich den Oberbürgermeister Walter Kolb. Er war ehemaliger Buchenwald-Häftling. Ich hatte mich nicht mit ihm zu „versöhnen“. Wir hatten eine gemeinsame Verantwortung für die deutsche Zukunft“. Wie sähe Europa heute aus ohne Grosser? Er gehört zu den konstruktiven, pragmatischen Intellektuellen, von denen es nicht viele gibt. 1975 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seine Rolle als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente“, wie es in der Begründung hieß. Andere Ehrungen folgten, darunter die Theodor-Heuss-Medaille, der Schillerpreis der Stadt Mannheim, der Grand Prix de l'Académie des Sciences morales et politiques, der Humanismuspreis des Deutschen Altphilologenverbands. Natürlich ist er Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband sowie Grand Officier der Ehrenlegion. Wir dürfen voller Erwartung auf seine Rede sein. Und diese Erwartung darf ich noch mit zwei Gedanken zuspitzen, zwei Gedanken eines unabhängigen Geistes: Zum einen spießt er den beliebten Sonntagsredenbegriff der „kollektiven Erinnerung“ auf. Es sei unzulässig, die vielen Identitäten und Erinnerungen jedes Einzelnen der Einheit des Kollektivs unterzuordnen. „Jeder Mensch hat viele Identitäten und jede Reduktion auf eine einzige Identität schafft letztendlich Intoleranz“, sagte er. „Es gibt keine kollektive Identität, denn man kann sich nicht an etwas erinnern, was man selbst nicht erlebt hat“. Das geht uns an! Zum anderen äußert er sich über die Grenzen unseres Denken und Handelns: Es gebe keine Wahrheit, führte er bei seiner Rede zum Friedenspreis 1975 aus, es gebe nur die Suche nach ihr; genauso wenig gebe es absolute Freiheit und Gerechtigkeit, sondern nur Dinge, die freier und gerechter sind als andere. Auch Friede schlechthin gebe es nicht, denn Friede sei immer auch ein Zufriedengeben des Schwächeren. Überhaupt gebe es kein Absolutes, sondern nur das Streben nach dem, was man absolut als Ziel anspricht. Auch das geht uns an. Meine Damen und Herren, diese Zitate führen uns hinein in das Nachdenken über den Volkstrauertag, Ja, er ist in die Jahre gekommen und drohte schon, der historischen und sittlichen Gleichgültigkeit ganz zum Opfer zu fallen. Doch nun bewegt sich etwas; die Soldaten spüren es als erste: Der Tod ist wieder näher. Diese Gedenkstunde, die den Gefallenen der deutschen Heere gewidmet ist, richtet sich nicht mehr nur an die Toten der Weltkriege, sondern auch an die der Gegenwart. Gut sechzig Jahre nach dem letzten großen Krieg scheint die Fähigkeit zum Mitfühlen und Mitleiden wieder zu wachsen. Es war ja diese Reduzierung des menschlichen Leides auf die Frage der Schuld und Verantwortung, diese Unfähigkeit zu trauern, was die Generationen einander langsam entfremdete. Wir erlebten eine beispiellose Ritualisierung der Schuld, die einen wahrhaftigen, selbstkritischen aber auch versöhnlichen Umgang mit der Geschichte und den Toten komplizierte. Politisch korrekte Rituale üben Zwang aus. Sie behindern den schwierigen Prozess einer geistigen und sittlichen Katharsis. Stattdessen mobilisierten diese Rituale Abwehrreflexe bei denjenigen, die die Überbürdung mit Schuld und ihr Weiterreichen an das nächste und übernächste Glied in Form eines Generalverdachts nicht ertragen konnten. Diese Entindividualisierung von Schuld ärgert. Jede Übertragung von Schuld auf andere ist ungerecht. Schuld muss auch dann individuell bleiben, wenn Staat, Partei, Institutionen und Eliten moralisch versagen und die Bürger mit sich in den Abgrund reißen. Krieg und Verfolgung im Dritten Reich forderten entsetzlich viele Opfer, weiß Gott nicht nur unter Soldaten an der Front. Das Volk trauert um alle. Doch für Soldaten aller Nationen darf ein Tag wie heute vor allem ein Gedenktag für die Gefallenen sein, Heldengedenktag, wie es einst bei uns hieß. Wer wollte darin eine Geringschätzung anderer Opfer sehen, oder eine mystische Verklärung des Soldatentums – jedenfalls nach einigem Nachdenken? Ja, Soldaten sind Helden, Helden in dem Sinne, dass sie die Hauptfiguren eines Dramas sind, hineingeworfen in ein unabwendbares Schicksal. Sie können nicht anders, als zu Tätern zu werden, weil sie auch nicht anders können, als zu Opfern zu werden; aus Unschuldigen werden – unfreiwillig – Schuldige. Niemand aber kann mit der Schuld und mit dem Tod vor Augen seine inneren Konflikte aus eigener Kraft auflösen. Die Zusage göttlicher Gnade ist gewiss ein großer Trost. Doch sie befreit nicht davon, das eigene Menschsein nach bestem Wissen und Gewissen im Handeln zu behaupten. Liegt darin nicht die Größe von Helden? Leben und Sterben in Extremsituation, Verzweiflung, seelische Entladung und platte Verdrängung: Das alles gehört zu den stillen, gar nicht strahlenden, sondern tragischen Helden. Solche Männer sind keine Verbrecher oder Mörder! Wir, die Söhne und Töchter, die Enkel, wollen diese Helden auch als Helden ehren und lieben dürfen – eigentlich ein geringer, niemanden verletzender Wunsch, der menschlicher und moralischer ist, als im Namen der Meinungsfreiheit immer noch die Diffamierung dieser Helden zuzulassen! Der Gedenktag will die toten Helden gegenwärtig machen und Menschlichkeit anmahnen. Diese Idee darf nicht einer verengten, abstrakten Moral ausgeliefert werden, einer Moral, die als Anklage daherkommt. Muss wirkliche Moral nicht lebensnah sein? Jedenfalls darf sie nicht überfordern, nicht erbarmungslos werden, muss mehr leisten als Falsch-Richtig-Kalkül. Moral gehört nicht den Moralisten, die anderen den Spiegel vorhalten und die Nation in gute und schlechte Deutsche einteilen. Oder, um es in Anlehnung an Odo Marquardt zu sagen: die sich für privilegiert halten, das Gewissen zu sein, das andere sich zu machen hätten. Den Volkstrauertag aus der Verengung dieses Moralfundamentalismus zu holen und von dem Zwang zu befreien, wieder und wieder den Nachweis antifaschistischer Gesinnung erbringen zu müssen – das würde der Wahrheit und der moralischen Urteilskraft zu ihrem Recht verhelfen. Doch, der Volkstrauertag fordert mehr, braucht auch Betroffenheit und tröstendes Verstehen, braucht eine erlebbare Bedeutung, die dem Gedenken das das Anonyme, das Kollektive, das Entfernte nimmt. Was Jung und Alt mehr als alles verbinden kann, sind ähnliche Schicksale und Erfahrungen, sind die Nähe des Todes und miterlebtes Leid. In der dritten Nachkriegsgeneration fallen Soldaten wieder und werden verwundet. Die Einsätze sind gefährlich geworden, auch wenn sie nicht mit Stalingrad oder den Seelower Höhen zu vergleichen sind. Die Jungen beginnen, ihre Großväter zu verstehen. Doch welchen Anteil nehmen Nation und Gesellschaft daran? Wie werden sie diesmal mit ihren Gefallenen umgehen? Muss man sich nicht sorgen, dass wieder der fällige Dank ausbleibt, dass die Hinterbliebenen wieder herzlose Gleichgültigkeit erleiden müssen? Dass gar wieder Verantwortung abgeschoben, Schuld zugewiesen wird? Sechzig Jahre danach – natürlich ist unser Staat ein anderer. Er ist weit entfernt von jener menschenverachtenden Ideologie, die systematisch Menschen anderer Rassen und anderer Denkungsart vernichteten will, die Würde des Menschen missachtet und zerstört. Unsere Verfassung garantiert das Recht und die Freiheit, sie ist wirksam und die Demokratie mit ihren Checks and Ballances funktioniert. Das garantiert gewiss die Legalität des Einsatzes von Streitkräften – durch die Zustimmung der Volksvertreter nämlich. Doch, gilt das auch für die Klugheit, Sinnhaftigkeit und Angemessenheit des Einsatzes, für die Ausstattung der Soldaten mit den erforderlichen Mitteln und Einsatzregeln, für eine umsichtige und mutige politische Führung? Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Strukturen der Krisen sind ähnlich. Und wer sagt, dass Demokratien in Not gefeit seien dagegen, ihrem Volk zu schaden? Jacob Burckhardt erklärte in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen den Mechanismus: Für einen kritischen Zustand werden die verantwortlich gemacht, die ihn tragen, nicht die ihn verursacht haben, „schon weil man nicht nur ändern, sondern Rache üben will und den Toten nicht mehr beikommen kann“. Derartiges gilt es zu verhindern, genauso wie diesen schleichend und indirekt wirkenden Gefahren zu wehren ist: dem Egoismus, dem Mangel an Gemeinsinn und der Beschädigung der Fähigkeit zur Nächstenliebe, wie Christen es nennen. Zwei Signale gehen also von dem Tag heute aus: Das eine richtet sich gegen den rechthaberischen Moralismus, der keine Brücken bauen kann, und das andere gegen die Gleichgültigkeit, die Leid nur zur Kenntnis nimmt, wenn es das eigene ist. Es kann wohl nicht anders sein: Der apokalyptische Sturm, den das Dritte Reich auslöste, hat tiefe Verwerfungen zur Folge gehabt, Verwerfungen im Fühlen und Denken, Ratlosigkeit, Überforderung, Misstrauen. Dies alles spiegelt sich im Umgang mit den Toten. – Immer standen die Gedenkfeiern auf dem Ehrenbreitstein im Zeichen der Vergangenheit, des deutschen Traumas. Die aktive Truppe hatte da wenig Platz. Die heutigen Soldaten, Kinder ihrer Zeit und ähnlich ahistorisch eingestimmt wie die Gesellschaft, aus der sie kommen, waren kaum beteiligt, kaum berührt, wenn der Kriegstoten gedacht wurde. Für sie waren der Krieg und sein Leid schon längst im Nebel der Vergangenheit undeutlich geworden. Ohne Erinnerung aber kann die Zukunft keinen festen Grund haben. Ohne Erinnerung wird jeder Generationenumbruch zum geistigen Risiko. Dem wollen das Kuratorium und der Inspekteur des Heeres Rechnung tragen. Das Kuratorium des Ehrenmals soll zu einem Forum der Begegnung über den Gedenktag hinaus werden. Wir wollen das behutsam auf den Weg bringen. Ermutigend jedenfalls ist, dass über das Jahr das Ehrenmal inzwischen viel Aufmerksamkeit erfährt. Kaum ein Besucher der Festung, der nicht nachdenklich stehen bleibt, kaum ein Tag, an dem keine Blumen am Sarkophag oder an der Stele liegen. Wir wissen von Traditionsgemeinschaften und Soldatenvereinigungen, von Jahrgängen und Freundeskreisen, von Kameraden und Familienangehörigen, die sich hier zum Gedenken einfinden. Ohne die belastende Vergangenheit verdrängen zu wollen – sie ist und bleibt das mahnende Vermächtnis aus dunkelster Zeit: das Ehrenmal hat eine zusätzliche, aktuelle Bedeutung erhalten. Es ist der Ort geworden, der den vorbeiziehenden Wanderer auffordert, der Welt zu verkünden, er „habe uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl“. Leonidas von Sparta wusste schon vor 2500 Jahren an den Thermopylen von der Einsamkeit des Soldaten und von dem kurzen Gedächtnis derjenigen, für die er stirbt. Erstellt von: msalchow letzte Änderung: Donnerstag, 23. Oktober 2014 [20:57:41] von msalchow |